4. SOS Botschaft für Kinder, Spielplatzprojekte, Wäldchen
Historischer Spaziergang durch die Lehrter Straße
SOS Botschaft für Kinder
Gegenüber von den Eisenbahnerhäusern, Lehrter Straße 6-10, steht auf dem Eckgrundstück zur Seydlitzstraße die SOS Botschaft für Kinder mit dem Inklusionshotel Rossi. Sie wurde im Sommer 2017 eröffnet und ist ein „Haus für Kinderrechte„.
Hier gibt es einen großen Veranstaltungsbereich, das Hotel Rossi mit dem Ausbildungsrestaurant, das auch Arbeitsplätze für Behinderte bietet, und weitere Büroetagen und Gruppenräume. Die Fassade besteht eigentlich aus viel Glas und Holz. Die textile Verkleidung wirkt auf manche ein wenig abweisend. Von innen jedoch ist das Gebäude sehr schön und praktisch gestaltet. Es gibt bestimmt in einigen Monaten mal wieder öffentliche Veranstaltungen auch hier, bei denen man das Haus kennenlernen kann.
Die Planungsphase hat auch für diesen Ort lange gedauert. Bereits 2012 hatte die Leiterin des SOS-Kinderdorf Moabit, Kirsten Spiewack bei einer Betroffenenratssitzung in der Lehrter Straße über die Pläne berichtet. 2013 gingen die Architekten ludloff + ludloff als Sieger aus einem Wettbewerb hervor. Ende 2014 war Baubeginn. Berichte und Unterlagen aus der Planungs- und Bauphase können auf unserer Webseite unter „Planungen“ eingesehen werden.
„Ziel der politischen Arbeit von SOS-Kinderdorf ist es, Kinder und junge Menschen dabei zu unterstützen, ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Diese Idee bildet den Rahmen der politischen Arbeit, egal ob es sich um den Kampf gegen Kinderarmut, die Gestaltung der Migrationsgesellschaft oder den Einsatz für Care Leaver geht.“
An dieser Stelle möchte ich gerne über den Ort in früheren Zeiten sprechen. Denn es ist einer der Orte, an denen Bürgerbeteiligungsaktionen des Betroffenenrats Lehrter Straßeorganisiert wurden. Die hier sind schon fast vergessen, weil sie bereits Anfang bis Mitte der 1990er Jahre stattfanden.
Wohnhaus von Otto Rudolf Salvisberg
Doch zunächst die noch ältere Geschichte:
Auf dem Eckgrundstück, Lehrter Straße 66, stand seit 1927 ein Wohnhaus, das in etwa so aussah, wie die folgenden vier dreigeschossigen Häuser, Lehrter 62-65, gebaut nach einem Entwurf von Otto Rudolf Salvisberg. Der Schweizer Architekt entwarf u.a. Wohnhäuser im Siedlungsbau von Gartenstadt bis zur Moderne. Das ist auch hier an den vier erhaltenen Häusern gut zu erkennen, von denen die meisten einen schönen Gemeinschaftsgarten zum Poststadion haben. Der Reichswehrfiskus hatte sie im Erbbaurecht für 99 Jahre an die Wohnbau GmbH verpachtet – die Grundstücke gehörten als Randbereich des Exerzierplatzes bzw. Poststadions zum ehemaligen preußischen Militärgelände.
2009 wurden die Häuser privatisiert und sind zunächst an die ML Anna Real Estate und später an die Patrizia GmbH verkauft worden. Der Betroffenenrat Lehrter Straße hofft, dass die Grundstücke auch nach dem bald auslaufenden Erbbaurecht weiter im Eigentum des Landes Berlin bleiben.
Das Eckhaus wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Ein Bauantrag von 1952 zum Wiederaufbau des Hauses wurde abgelehnt mit Hinweis auf die im Flächennutzungsplan vorgesehene „Erweiterung der öffentlichen Nutzungen“ – was immer damals damit gemeint gewesen sein könnte. Heute passt es wieder.
Am 13. März 2011 begegnete mir ein großer blonder älterer Mann auf der Lehrter Straße. Er wunderte sich, dass noch so viel von früher zu erkennen war, zum Beispiel das Bahngelände und erzählte vom Lebensmittelgeschäft in der Lehrter Straße 19 und von einer Tankstelle daneben, weiter zurückliegend hinterm Zaun:
„Ich bin seit 1943 zum ersten mal wieder in der Lehrter Straße. Ich wurde in Eisenach geboren und bin mit meinen Eltern nach Berlin gezogen. Als Kind wohnte ich von 1937-43 in der Nr. 20 in der Eckwohnung im 4. Stock. Dort wurden wir ausgebomt, am gleichen Tag, an dem eine Luftmine die Lehrter Straße 66 an der Seydlitzstraße zerstörte. An der Hand der Mutter, den kleinen Bruder im Körbchen, sind wir zur Invalidenstraße gelaufen. Es war noch nicht vorbei, wieder fielen Bomden, die Invalidenstraße brannte. Alles brannte.“
Kinderbeteiligung 1990er Jahre
Jetzt aber der Sprung zum Anfang der 1990er Jahre. Das Grundstück war eingezäunt, mit vielen Büschen und einigen spontan gewachsenen Bäumen bestanden. Immer mal wieder wurde der Zaun aufgeschnitten, Kinder spielten dort und viel Müll wurde abgeladen. Eine typische Berliner Brachfläche, wie sie sich hier in der Lehrter Straße ziemlich lange gehalten haben.
1992 machten wir die erste Aufräumaktion mit Kindern aus der Lehrter Straße 6-10. Zwei große Container wurden mit Müll gefüllt. Der Eisenbahnerblock war damals noch nicht saniert und nicht nur das: notwendige Instandhaltungsmaßnahmen waren jahrelang wegen Planungsbefangenheit unterblieben. Frühere Mieter zogen in den 1970er und 1980er Jahren weg, weil die Häuser so verfielen. Viele Gastarbeiter-Familien – heute sagt man „mit Migrationshintergrund“ zogen ein – in die unsanierten Ofenheizungs-Wohnungen. Fast 100 Kinder lebten zu dieser Zeit im Eisenbahnerblock. Beide Höfe dort waren komplett gepflastert, trostlos und nichts anderes als Müllstandorte. Kein Spielplatz war in der Nähe. So entstand die Idee in Eigenleistung einen Spielplatz und kleinen Park für die direkte Nachbarschaft zu schaffen.
Die zweite Aufräumaktion organisierten wir 1993, eine dritte im Frühjahr 1995. Im September/Oktober 1995 führte der Moabiter Kinderhof ein Lehmbauprojekt durch. Damals hatte er noch nicht den Platz des Gartenbauamtes an der Seydlitzstraße bekommen.
Eine kontinuierliche Betreuung war leider nicht möglich. Deshalb vermüllte der Platz leider immer wieder. Dazu hat bestimmt auch die Umsetzung der Familien während der Sanierung der Häuser beigetragen. Viele von ihnen kamen auch nicht wieder in die Lehrter Straße zurück, sondern blieben in den Umsetzwohnungen. Bis zum Bau der SOS Botschaft für Kinder war wieder ein kleines Wäldchen auf dem Eckgrundstück gewachsen, in dem pünktlich jedes Jahr etwa ab 20. April die Nachtigall Revier bezog und die Nachbarschaft mit ihrem Gesang erfreute. Jetzt muss man schon in den Fritz-Schloß-Park gehen um Nachtigallen zu lauschen.
Quellen:
Weichenstellungen: Geschichte und Zukunft der Lehrter Straße. Herausgeber: S.T.E.R.N. Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung Berlin mbH, Berlin, 1991, Transit Verlag, ISBN 978-3-88747-068-5.
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