9. Spielplatz, Schleicherfabrik und Wohnhaus Lehrter Straße 27-30
Historischer Spaziergang durch die Lehrter Straße
Das Wohnhaus Lehrter Straße 27-30 und dahinter liegende, sich bis zur Lehrter Straße 35 erstreckende Werkstattgebäude, die es heute nicht mehr gibt, wurden 1887-88 von der Firma Berliner Granit- und Marmorwerke von M. L. Schleicher gebaut.
Die 1853 gegründete Firma war einer der bedeutendsten Steinmetzbetriebe in Berlin im 19. Jahrhundert. Besonders berühmt war sie für die Grabmalskunst. Die Werkstücke wurden schon seriell hergestellt und konnten aus einem Katalog ausgewählt werden. Auf Berliner Friedhöfen gibt es noch zahlreiche Skulpturen, Grabwände, Mausoleen, und Grabeinfassungen von besonderer Qualität. Die Firma arbeitete mit dem bekannten Architekten Heinrich Strack zusammen. Sie machten Marmor in Berlin erst so richtig bekannt, der immer beliebter wurde. Die verkehrsgünstige Lage und die Möglichkeit eigener Bahnanschlüsse war attraktiv für solche Firmen. Als der Militärfiskus die Grundstücke 1886 verkaufte, erwarb M. L. Schleicher diese und verlegte seine Werkstätten hierhin an die Berlin-Lehrter-Eisenbahn.
Ratsmaurermeister Richard Krebs erbaute das Wohnhaus (Doppelmietshaus) und die Werkstätten. Die Fassade wurde im Stil der norddeutschen Renaissance gestaltet. Die aufwendige Werksteingliederung stellte die Steinmetzprodukte des Bauherren werbewirksam in der Fluchtlinie der Kruppstraße zur Schau. Das Haus macht durch die Ausstattung einen großbürgerlichen Eindruck, das täuscht aber, z. B. wurden die Bäder in den Vorderhäusern erst 1913 eingebaut. Zu diesem Zeitpunkt waren die Häuser Lehrter Straße 26a+b und 31-35 noch nicht bebaut (im Entwurf der Fabrikanlage „abzuzweigende Parzelle“).
Hof – Schleicherfabrik
An das Wohnhaus grenzten beidseitig zwei 2-stöckige Remisengebäude an, unten Werkstatt und im Obergeschoss Wohnen, eine Remise ist noch erhalten. Nördlich an die Remise angrenzend erstreckte sich ein 78 Meter langes Gebäude mit Werkstätten für Sandbetrieb. In den östlich entlang der Bahnstrecke gelegenen Werkstattgebäuden standen dampfbetriebene Schneide- und Sägewerke zur Verfügung. Weiterhin gab es ein Lagerhaus an der südlichen schrägen Wand zum Güterbahnhof-Gelände hin, sowie Pferdestall und Kutschenremisen.
Die Produktionsanlagen in der Lehrter Straße waren nach modernsten Gesichtspunkten gestaltet. Das Zuliefergleis brachte die Steinblöcke bis auf das Firmengelände. Die Bearbeitung erfolgte in verschiedenen Stufen und je nach Arbeitsgang in den unterschiedlichen Werkstätten.
Die Werkstattgebäude wurden 1909 von der Wertheim-Grundstücksgesellschaft übernommen und teilweise umgebaut. Das Kaufhausunternehmen brachte in den Gebäuden die fleischverarbeitende Abteilung und den Fuhrpark unter. Auf dem südlich an das Grundstück angrenzenden Teil des Güterbahnhofs befanden sich schon zuvor ein Viehhof mit Laderampen. U.a. wurden für die Heeresverwaltung Fleischkonserven produziert. In der Nachkriegszeit war auf dem Grundstück die Fleischwarenfabrik Otto Sternheimer ansässig.
Lange Jahre wurden über Nachnutzungsmöglichkeiten der Werkstatträumlichkeiten der Schleicherfabrik z. B. für soziale Bildungsträgerprojekte gesprochen. Aber alle Ansätze scheiterten. Der markante Schornstein der Schleicherfabrik wurde wegen angeblicher Baufälligkeit und Gefahr für den Neubau der Bahnstrecke am 29.5.1998 gesprengt – erst die zweite Sprengung brachte ihn zum Einsturz und beschädigte intakte Teile. Der Tagesspiegel titelte am Tag darauf: „Er bebte, hielt – und fiel später um“. Abgerissen wurden die Anlagen der Schleicherfabrik 2004.
Spielplatz
Ein Spielplatz wurde auf dem straßenseitigen Grundstück der früheren Häuser Lehrter 31-34 Anfang der 1990er Jahre von den Anwohner*innen mit ihren Kindern selbst gebaut, nachdem Klara Franke im Oktober 1990 bei der Ausstellung Weichenstellungen zur Lehrter Straße durch S.T.E.R.N. eine Demo der Kinder organisiert hatte, denn Wolfgang Nagel, der damalige Bausenator war vor Ort. Die Kinder riefen laut „Wir woll‘n Spielplatz, wir woll‘n Spielplatz!“ Nagel erwiderte „Ihr kriegt‘n Spielplatz, ihr kriegt‘n Spielplatz“. Für die provisorische Herrichtung des Spielplatzes stellte Nagel 10.000 DM aus Städtebaufördermitteln bereit. Noch im Jahr der Fertigstellung des Spielplatzes stellte sich heraus, dass der Boden – wie auch bei vielen anderen Spielplätzen in Berlin – mit polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) verseucht war. Der Spielplatz wurde gesperrt, alles wurde wieder abgeräumt. In den Folgejahren wurde der Spielplatz mehrfach umgestaltet und erweitert. Zum Gedenken an Klara Franke wurde der Spielplatz nach ihrem Tod vom Bezirk Tiergarten nach ihr benannt.
Im Rahmen des städtebaulichen Wettbewerbs und des Bebauungsplanverfahrens Mittelbereich Lehrter Straße wurden auch der damalige Klara-Franke-Spielplatz und das Gelände der ehemalige Schleicherfabrik in die Planung für eine Neuaufteilung und Gestaltung von Spielplatz und Quartiersplatz einbezogen und eine spätere Anknüpfung des bahnbegleitenden „Döberitzer Grünzugs“ mit eingeplant. Klara-Franke-Spielplatz und Quartiersplatz in der heutigen Form wurden im Juni 2013 eröffnet. Der an die Remise der Lehrter Straße 27-30 als Werkstatt der Kulturfabrik erhalten gebliebene Teil der Sandwerkstätten der Schleicher-Fabrik, der über den Spielplatz zu erreichen ist, wurde von 35services, dem Werkstattverein der Kulturfabrik, mit öffentlichen Mitteln 2014-16 zur Mitnutzung als Nachbarschaftswerkstatt umgebaut.
Quellen
Weichenstellungen: Geschichte und Zukunft der Lehrter Straße. Herausgeber: S.T.E.R.N. Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung Berlin mbH, Berlin, 1991, Transit Verlag, ISBN: 978-3-88747-068-5.
Landesdenkmalamt Berlin, Denkmaldatenbank Mietshaus & Hofgebäude Lehrter Straße 27 & 28 & 29 & 30
Berlin und seine Bauten (BusB) 1896, Bd. 1, S. 598-600
Monke 1968, Bd. 1, S. 56 (falsch beschrieben), Bd. 2, Abb. 46
Brauchen wir soziale Vorbilder? Spurensuche im Kiez – Klara Franke und die Lehrter Straße –. Manuela Klemp, Magisterarbeit, TU Berlin – FB 02 Erziehungswissenschaften, SoSe 2000, B-Laden Archiv